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Er wollte seine Koffer schon packen. Am nächsten Tag stand
das Endspiel der IX. Handball-WM 1978 in Kopenhagen an, aber Dieter Waltke hatte
genug von seinem Trainer. "Wir standen im Finale, das ja, aber ich war trotzdem
tief enttäuscht vom ganzen Verlauf der WM", erzählt Waltke, "ich wollte schon
abreisen, da kommt der Trainer an unseren Tisch, guckt mich an und sagt: 'Du
spielst morgen.'"
Waltke traute ihm nicht. Denn Vlado Stenzel, der kroatische Bundestrainer, hatte
den Linksaußen zuvor im Turnier nicht ein einziges Mal eingesetzt. Nicht in der
Vorrunde gegen die CSSR (16:13), nicht gegen den Handball-Zwerg Kanada (20:10),
nicht gegen Jugoslawien (18:13), und auch nicht bei den beiden Unentschieden
gegen die DDR (14:14) und Titelverteidiger Rumänien (17:17). Nicht eine Sekunde.
Und jetzt wollte ihn Stenzel ausgerechnet gegen Olympiasieger UdSSR einsetzen,
den 10:1-Favoriten für den Titelgewinn?
Waltke, den alle nur "Jimmy" riefen, weil er eine Matte trug wie Rockstar Jimi
Hendrix, konnte es nicht glauben. Aber er blieb. Zum Glück für Stenzel und die
Mitspieler, die Heiner Brand, Kurt Klühspies und Manfred Hofmann hießen. Denn er
produzierte am nächsten Tag, dem 5. Februar 1978, die wohl bizarrsten 193
Sekunden in der 69-jährigen Historie der Handball-Weltmeisterschaften. "Eine
ganz merkwürdige Geschichte", weiß Waltke.
Er wäre wohl auch in diesem Endspiel nicht zum Einsatz gekommen. Aber dann
unterlief Arno Ehret, dem Stammspieler auf Linksaußen, in der 39. Minute ein
Fehler in der Abwehr. Stenzel war wütend, wechselte Ehret aus. "Er wollte ihm
irgendetwas erklären", erinnert sich Waltke noch genau, denn nun war sein Moment
gekommen. Was in den folgenden drei Minuten geschah in der mit 7000 Zuschauern
ausverkauften Bröndyhalle, war atemberaubend.
Der Einzige, der cool blieb, der kaltschnäuzig die vor ihm liegende Chance
nutzte, war Waltke, dieser Unbekannte, der noch keine Sekunde gespielt hatte.
Die Szenen hat er immer noch gespeichert: "Es stand 13:12, und keiner hat sich
so richtig getraut. Da habe ich einfach den ersten Wurf von außen genommen." Und
als er traf gegen Michail Istschenko, die russische Torhüterlegende, "da habe
ich das nötige Selbstvertrauen gehabt".
Die Mauer der Russen hielt ihm nicht stand
Die Mitspieler spüren das. Als die Abwehr den nächsten Angriff der Sowjets
abfängt, bedient Brand, der heutige Bundestrainer, den flinken Mann von
Grün-Weiß Dankersen - und auch dieser Tempogegenstoß sitzt. 15:12 für
Deutschland. "Das lief so gut", erzählt Waltke, "da bin ich einfach den nächsten
Angriff eingelaufen und habe einen Ball aus dem Rückraum geworfen." Die Mauer
der russischen Riesen hielt auch diesem Wurf nicht stand. Ob er über sie hinweg
warf, oder einfach mitten hindurch, das weiß Waltke nicht mehr.
Aber es stand 16:12, sie führten das erste Mal mit vier Toren, der WM-Triumph
war greifbar. Waltke lief jubelnd zurück, dann kam für ihn der Schock. Der
Trainer gab ihm das Zeichen. "Da musste ich schon wieder raus", erzählt Waltke.
Nach exakt 193 Sekunden. Noch heute, 29 Jahre später, ist ihm die Empörung
darüber anzumerken. "Verstanden hat das eigentlich keiner", sagt Walke. Welcher
Trainer wechselt einen Sportler aus, der einen solchen Lauf hat? Der drei
fantastische Tore geworfen und das Spiel innerhalb von etwas mehr als drei
Minuten so gut wie entschieden hat?
Die rund 2000 deutschen Fans in Kopenhagen trauen ihren Augen nicht, und auch
nicht die Millionen an den Bildschirmen. Die vielen verschiedenen Erklärungen,
die Stenzel ihm später gab, kann Waltke bis heute nicht nachvollziehen. Für ihn
gibt es nur eine schlüssige Antwort auf das Rätsel von Kopenhagen: "Die Tore
waren ihm gar nicht aufgefallen, er hat das gar nicht registriert." Als er Ehret
den Abwehrfehler erklärt hatte, habe er ihn einfach wieder eingewechselt, so
lautet Waltkes These.
Ein richtiger Weltmeister
Die restlichen 17 Minuten schmorte er wieder auf der Bank, musste zusehen, wie
die Russen den Rückstand nach und nach verkürzten. Aber es reichte nicht mehr,
und als die deutsche Mannschaft um Kapitän Horst Spengler nach dramatischem Ende
20:19 siegte und sensationell Weltmeister war, da jubelte auch Waltke mit.
Selbst, wenn er nur auf der Bank gesessen hätte, wäre er offiziell Weltmeister
gewesen, "aber es ist ein anderes Gefühl, wenn man etwas Wichtiges beigetragen
hat". Und er war wichtig gewesen. Er war der Joker, der gestochen hatte in
diesem Spiel gegen den scheinbar übermächtigen Gegner.
Seit gut 26 Jahren arbeitet Waltke als Gymnasiallehrer für Sport und Geschichte
im ostwestfälischen Espelkamp, er macht diesen Job gerne, und er hatte in seinem
Leistungskurs den Nationalspieler Frank von Behren, der bei der WM wegen eines
Kreuzbandrisses fehlt, die am Freitag in Deutschland beginnt. Waltke, der Mann
mit der wilden Rockfrisur, feierte auch andere sportliche Erfolge: Er war 1976
mit Dankersen Meister, 1981 siegte er mit Nettelstedt im Europapokal.
Aber dieses Finale von Kopenhagen, sagt er rückblickend, "war doch eine
besondere Geschichte". Ein Mythos war geboren, und er wurde immer größer, je
länger die deutschen Mannschaften diesem letzten WM-Triumph hinterherliefen. Dem
Westdeutschen Rundfunk hat Waltke kürzlich gern mit einer Videokassette
ausgeholfen, als sie dort das Finale von 1978 nicht mehr auffinden konnten im
Archiv. Damit sie vollständig dokumentiert werden können. Diese verrückten 193
Sekunden, in denen er die Hauptrolle gespielt hatte und zu einer
Handball-Legende avancierte. |