Info Handball-WM 1978

07.01.13

  193 Sekunden Wahnsinn

Quelle: Der Spiegel
von Erik Eggers

Am Freitag beginnt die Handball-WM: Ab dann geht es für die deutsche Mannschaft um den Titel im eigenen Land. Dieter "Jimmy" Waltke weiß bereits, wie es ist, Weltmeister zu sein. Er spielte 1978 beim letzten Triumph eines DHB-Teams. Dabei war Waltke eigentlich schon draußen.

 

     Linksaußen Waltke: Verrücktes Spiel

 

Er wollte seine Koffer schon packen. Am nächsten Tag stand das Endspiel der IX. Handball-WM 1978 in Kopenhagen an, aber Dieter Waltke hatte genug von seinem Trainer. "Wir standen im Finale, das ja, aber ich war trotzdem tief enttäuscht vom ganzen Verlauf der WM", erzählt Waltke, "ich wollte schon abreisen, da kommt der Trainer an unseren Tisch, guckt mich an und sagt: 'Du spielst morgen.'"
Waltke traute ihm nicht. Denn Vlado Stenzel, der kroatische Bundestrainer, hatte den Linksaußen zuvor im Turnier nicht ein einziges Mal eingesetzt. Nicht in der Vorrunde gegen die CSSR (16:13), nicht gegen den Handball-Zwerg Kanada (20:10), nicht gegen Jugoslawien (18:13), und auch nicht bei den beiden Unentschieden gegen die DDR (14:14) und Titelverteidiger Rumänien (17:17). Nicht eine Sekunde. Und jetzt wollte ihn Stenzel ausgerechnet gegen Olympiasieger UdSSR einsetzen, den 10:1-Favoriten für den Titelgewinn?
Waltke, den alle nur "Jimmy" riefen, weil er eine Matte trug wie Rockstar Jimi Hendrix, konnte es nicht glauben. Aber er blieb. Zum Glück für Stenzel und die Mitspieler, die Heiner Brand, Kurt Klühspies und Manfred Hofmann hießen. Denn er produzierte am nächsten Tag, dem 5. Februar 1978, die wohl bizarrsten 193 Sekunden in der 69-jährigen Historie der Handball-Weltmeisterschaften. "Eine ganz merkwürdige Geschichte", weiß Waltke.
Er wäre wohl auch in diesem Endspiel nicht zum Einsatz gekommen. Aber dann unterlief Arno Ehret, dem Stammspieler auf Linksaußen, in der 39. Minute ein Fehler in der Abwehr. Stenzel war wütend, wechselte Ehret aus. "Er wollte ihm irgendetwas erklären", erinnert sich Waltke noch genau, denn nun war sein Moment gekommen. Was in den folgenden drei Minuten geschah in der mit 7000 Zuschauern ausverkauften Bröndyhalle, war atemberaubend.
Der Einzige, der cool blieb, der kaltschnäuzig die vor ihm liegende Chance nutzte, war Waltke, dieser Unbekannte, der noch keine Sekunde gespielt hatte. Die Szenen hat er immer noch gespeichert: "Es stand 13:12, und keiner hat sich so richtig getraut. Da habe ich einfach den ersten Wurf von außen genommen." Und als er traf gegen Michail Istschenko, die russische Torhüterlegende, "da habe ich das nötige Selbstvertrauen gehabt".
Die Mauer der Russen hielt ihm nicht stand
Die Mitspieler spüren das. Als die Abwehr den nächsten Angriff der Sowjets abfängt, bedient Brand, der heutige Bundestrainer, den flinken Mann von Grün-Weiß Dankersen - und auch dieser Tempogegenstoß sitzt. 15:12 für Deutschland. "Das lief so gut", erzählt Waltke, "da bin ich einfach den nächsten Angriff eingelaufen und habe einen Ball aus dem Rückraum geworfen." Die Mauer der russischen Riesen hielt auch diesem Wurf nicht stand. Ob er über sie hinweg warf, oder einfach mitten hindurch, das weiß Waltke nicht mehr.
Aber es stand 16:12, sie führten das erste Mal mit vier Toren, der WM-Triumph war greifbar. Waltke lief jubelnd zurück, dann kam für ihn der Schock. Der Trainer gab ihm das Zeichen. "Da musste ich schon wieder raus", erzählt Waltke. Nach exakt 193 Sekunden. Noch heute, 29 Jahre später, ist ihm die Empörung darüber anzumerken. "Verstanden hat das eigentlich keiner", sagt Walke. Welcher Trainer wechselt einen Sportler aus, der einen solchen Lauf hat? Der drei fantastische Tore geworfen und das Spiel innerhalb von etwas mehr als drei Minuten so gut wie entschieden hat?
Die rund 2000 deutschen Fans in Kopenhagen trauen ihren Augen nicht, und auch nicht die Millionen an den Bildschirmen. Die vielen verschiedenen Erklärungen, die Stenzel ihm später gab, kann Waltke bis heute nicht nachvollziehen. Für ihn gibt es nur eine schlüssige Antwort auf das Rätsel von Kopenhagen: "Die Tore waren ihm gar nicht aufgefallen, er hat das gar nicht registriert." Als er Ehret den Abwehrfehler erklärt hatte, habe er ihn einfach wieder eingewechselt, so lautet Waltkes These.
Ein richtiger Weltmeister
Die restlichen 17 Minuten schmorte er wieder auf der Bank, musste zusehen, wie die Russen den Rückstand nach und nach verkürzten. Aber es reichte nicht mehr, und als die deutsche Mannschaft um Kapitän Horst Spengler nach dramatischem Ende 20:19 siegte und sensationell Weltmeister war, da jubelte auch Waltke mit. Selbst, wenn er nur auf der Bank gesessen hätte, wäre er offiziell Weltmeister gewesen, "aber es ist ein anderes Gefühl, wenn man etwas Wichtiges beigetragen hat". Und er war wichtig gewesen. Er war der Joker, der gestochen hatte in diesem Spiel gegen den scheinbar übermächtigen Gegner.
Seit gut 26 Jahren arbeitet Waltke als Gymnasiallehrer für Sport und Geschichte im ostwestfälischen Espelkamp, er macht diesen Job gerne, und er hatte in seinem Leistungskurs den Nationalspieler Frank von Behren, der bei der WM wegen eines Kreuzbandrisses fehlt, die am Freitag in Deutschland beginnt. Waltke, der Mann mit der wilden Rockfrisur, feierte auch andere sportliche Erfolge: Er war 1976 mit Dankersen Meister, 1981 siegte er mit Nettelstedt im Europapokal.
Aber dieses Finale von Kopenhagen, sagt er rückblickend, "war doch eine besondere Geschichte". Ein Mythos war geboren, und er wurde immer größer, je länger die deutschen Mannschaften diesem letzten WM-Triumph hinterherliefen. Dem Westdeutschen Rundfunk hat Waltke kürzlich gern mit einer Videokassette ausgeholfen, als sie dort das Finale von 1978 nicht mehr auffinden konnten im Archiv. Damit sie vollständig dokumentiert werden können. Diese verrückten 193 Sekunden, in denen er die Hauptrolle gespielt hatte und zu einer Handball-Legende avancierte.

 

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